Hier noch ein Text, der vielleicht etwas schwerer zu verstehen ist. Nehmt ihn einfach von der humorvollen Seite.
Vorwort
Eine meiner Diagnosen lautet dissoziative Störung. Das ist eine Persönlichkeitsstörung, die unter anderem durch den (vermeintlichen?) Zerfall in verschiedene Persönlichkeitsanteile gekennzeichnet ist. Salopp gesagt, in einem Menschen denken, fühlen und handeln verschiedene Personen – gleichzeitig oder nacheinander – manchmal lange nur eine oder mehrere – dann wieder sehr viele auf einmal. Diese Beschreibung ist jedoch eine Übertreibung des tatsächlichen Zustands. Oft sind mir diese verschiedenen Persönlichkeitsanteile nicht so bewusst, aber manchmal treten sie recht deutlich und zahlreich auf. Unter diesem Aspekt ist der folgende Text, den ich im Mai 2003 geschrieben habe, vielleicht einfacher zu verstehen.
SCHREIBEN
Schreiben.
Schreiben!
Wieso schreiben?
Was ist das?
Schreiben - Lesen – Schrift - Buchstaben - Laute - Symbole - Zeichen – Muster.
Wie denn schreiben?
Wo denn, was denn?
Wer?
Ich, ich, ich!
Wer war das? Niemand! Eh klar!
Und wer schreibt jetzt?
Ein versteckter.
Verschreckter.
Ist weg.
Und du? Wer bist du?
Ich bin da, genügt das nicht?
Warum?
Was warum?
Na, nur weil du ... ist ja wurscht.
Macht nix, bin auch verwirrt.
Gehen wir’s an? Gemeinsam?
Vielleicht helfen uns dann auch noch andere.
Na gut.
Aber was?
Wir wär’s mit uns?
Nein, da verstrudeln wir uns zu sehr.
Ein Thema wär besser.
Hmmm, ... Beziehungen!
Das verdräng’ ich auch schon die ganze Zeit.
Deshalb wär’s ja auch interessant.
Schon, ... eh, ... aber sehr schwierig, gefährlich,
na ja, nicht gerade wirklich gefährlich,
aber für den Anfang zu anspruchsvoll, zu anstrengend,
wir würden uns verlieren,
dann eher was Unverfänglicheres, Grundlegenderes zu Beginn.
Egal, wo wir anfangen, wir gelangen ja doch auch wieder dorthin oder vielleicht zu etwas im Moment viel Wichtigerem.
Wir kommen ohnehin von überall her überall hin!
(Hey, das ist übrigens die wahre, eigentliche, wirk-liche, Bedeutung von „ohne-hin“).
Schluss mit dem Quatsch.
Wo fangen wir an?
Was gibt’s denn für Stichworte?
Versinken in Cairos!
Wow, gefällt mir.
Worum geht’s also?
Cairos und Chronos – griechische Göttermythologie – beides Begriffe für Zeit.
Chronos: gezählte, gemessene, eingeteilte Zeit – Termine, Daten, Kalender - unweigerlich, unaufhaltbar fortschreitende, zerrinnende, vergehende Zeit - hetzen, eilen, hasten, zu spät kommen, Wecker, Uhren, Stunden, Minuten, Sekunden, ticken, Metronom, zählen, Sanduhr, fertig werden, fertig sein, Vergänglichkeit – Ordnung, Struktur, System.
Cairos: zeitlose Zeit – die Zeit vergessen – sich in der Zeit vergessen – verlieren – im Augenblick versinken – im Augenblick die Ewigkeit entdecken ...
Cairos würd’ ich gern noch viel mehr beschreiben (und so auch begreifen und noch mehr spüren) – ist so schön mit ihm zu tanzen – ein wiegender, versinkender, einschläfernder, tranceartiger Tanz ...
Moment mal, Cairos ist ja schon längst bei uns, aber wir wollen uns nicht ganz verlieren, wir wollen ja auch Struktur, Ordnung, schreiben, etwas mitteilen.
Wollen wir das?
Mit-teilen!
Na klar!
Wiss’ ma ja eh!
Wir sind halt sehr redefreudig - etwas tratschsüchtig.
Wir quatschen und verbreiten Informationen so lang, bis möglichst viele von uns Bescheid wissen, einander kennen und sich halbwegs vertragen.
Oder auch nicht.
Manche wollen sich vielleicht gar nicht kennen.
Oder wissen eh schon, dass sie sich nicht leiden können.
Na, ja, aber versuchen kann ma’s ja mal – oder mal wieder.
Wer’n ma scho merken, wenn’s uns prügeln.
Was soll’s!
Und in Wirklichkeit woll’n sie’s doch eh alle.
Was?
Na, Zusammensein – Miteinander Sein – Eins-Sein.
Was bist du denn für eine Figur?
Wieso denn?
Bist du eine Scheinheilige oder träumst du mit offenen Augen?
Ach so, tschuldige, wie alt bist du denn, Kleine?
Na, schau, jetzt rennt’s weg!
Is’ ja auch kein Wunder, so wie du daherpolterst.
Na is’ scho gut, oder bist du jetzt auch traurig?
Ich vergess’ immer, dass du auch net viel älter bist.
Mach ma mal a Pause. Zigarettenpause. Und was essen.
O.k.
Bevor die Kinder heulen.
(Entrüstet) Wir heulen nie!
Eh net, eh klar, wiss’ ma eh, wir respektieren ja nur eure feinen Gefühle.
Also, kurze Pause für alle.
So, jetzt mach ma weiter.
Pause ham ma g’macht – sozusagen - mit dem Schreiben halt.
Zigarette geraucht, Banane gegessen – für die Kinder vor allem – aber Banane mögen eigentlich alle gern – halt viele und die anderen ham nix dagegen – das braucht und verträgt ja auch jeder – überhaupt in anstrengenden Zeiten.
Ist süß, gibt Kraft, baut auf und erdet.
Dann mit Martin telefoniert, und mit Silvia.
Ganz lieb, aber etwas konfus – unsererseits.
Verbindung mit Silvias Handy während der Zugfahrt gestört und dann abgebrochen.
Wollte auch nur kurz Hallo und was Nettes sagen, war dann aber eh schon etwas verwirrt - verworren – verwirrend – anstrengend. Ich war anstrengend, vielleicht.
War dann gut, dass es aus war – im Nachhinein gesehen. Ging eh nicht mehr.
Ruf sie später an – ruhiger – besserer Zeitpunkt.
Besserer Zeitpunkt.
Gibt’s den überhaupt?
So an und für sich?
Na, klar, immer wieder, musst nur drauf warten können, ihn kommen lassen.
Ja, Herr Positiv-Denker, du nerviger Optimist. Du gehst einem zeitweis’ schon sonst-wohin mit deiner Wahrheit. Lass mich mich etwas suhlen in meinem schwarzseherischen Schlamm. Du weißt, dass wir das auch sehr nötig brauchen – wir alle! Seid nur froh, dass ihr mich habt und lasst mich etwas klagen. Ich hab’ mich nicht drum gerissen, Klageweib zu sein, ihr überlasst mir die Drecksarbeit. Und ich werde noch mitleidig-scheinheilig aufgemuntert und getadelt, und ihr sonnt euch in eurer vermeintlichen Überlegenheit.
Aber, ist schon gut so, wenn ich nicht da bin, werde ich euch fehlen.
Jetzt spiel’ ich auf beleidigt.
Ich bin aber eh immer bei euch, ich muss ja aufpassen.
Aber ich bin ja nicht allein.
Wir sind eine ganze Truppe.
Wir sind Klofrauen, die den Dreck wegputzen, Installateure, die verstopfte Abflüsse frei machen, Lastenträger, wie Maulesel, deren einziger Zweck es ist, stark zu sein und zu tragen. Lehrer und Ärzte, Kindergärtnerinnen, Therapeuten, Spaßmacher, Nothelfer, wackere Arbeiter, die den Weg frei machen, Straßen bauen, Verbindungen, Mittelsmänner und echte Kumpel, Priester und Mütter und noch viele mehr.
Aber so blöd ist die Frage nach dem Zeitpunkt wieder auch nicht!
Nicht nach dem richtigeren, besseren, nach der Lage des Punktes innerhalb der Zeitlinie, die im mehr als drei-dimensionalen Raum verschlungen herumtaucht, weil sie nicht zielführend ist ---
Wer hat das geschrieben?
„Weil sie nicht zielführend ist!“ Die Frage? Die Zeitlinie? Die Zeit?
Ziel-führend!
Nicht ziel-führend.
Das ist stark!
--- sondern die Frage nach dem Zeit-punkt an und für sich.
Ein mathematischer Punkt hat unendliche Ausdehnung, ich wollte eigentlich sagen keine Ausdehnung, aber das ist eh das selbe. Ein Punkt nimmt ein Nichts als Raum ein.
Eine mathematische Gerade ist unendlich in ihrer eindimensionalen Ausdehnung.
Sie besteht aus einer unendlichen Anzahl von Punkten – ist also eine unendliche Aneinanderreihung von Nichts.
Ein Zeitpunkt ist also ein Punkt, ein Nichts, ein Alles, ein Eines.
Ein Augenblick ist schon viel länger als ein Zeitpunkt.
Was ist also ein Zeitpunkt?
Sind wir da nicht mittendrin.
Gefangen im Zeitkapsel-punkt, der die Zeit-Linie, die Zeit-Bahn entlangläuft?
Fragen, die uns tief hineinführen in den Punkt – auf den Punkt zuführen – ganz drinnen steht die Zeit still – gibt es keine Zeit – sind wir frei von Zeit.
Träume? – Wahrheit? – Wirk-lichkeit!
Zu tief. Zu heiß.
Genug.
Es lässt mich nicht los.
Wer hat geschrieben „Weil sie nicht ziel-führend ist!“?
Ziel-führend.
Wer hat diesen Begriff gefunden?
Ich war nicht dabei.
War überhaupt wer dabei?
Ich hab das ganz un-bewusst geschrieben.
Ich weiß nicht, wer gesprochen hat.
Es muss ein Genie unter uns sein.
Ich trau mich das kaum sagen, weil es so überheblich, selbstüberschätzend klingt.
(Koketterie mit der Scham und der Eitelkeit.)
Aber es stimmt.
Wir wissen es schon lange, und wagen es nicht zu glauben.
Klingt das nicht alles sehr nach psychotischem Größenwahn?
Sowieso – sowieso auch – das ist ja nicht unbedingt ein Widerspruch.
Der is’ aber schon ziemlich schizo!
Was meinst du damit.
Weiß ich auch nicht so genau – zumindest nicht in Worten – aber der is’ sehr tief drin – oder sehr hoch oben – ganz wie du willst – is’ das gleiche.
Jedenfalls is’ er Spitze bei den Worten, den treffenden Begriffen, aber noch tiefer, bei der Bedeutung des Wortes – jeder Silbe schon fast.
Steiger’ di’ net so rein, nachher genierst di’ wieder für dei’ schwärmerische Verehrung.
Na, aber das muss ich schon auch sagen, jemand von uns kann sehr tief zu den Wurzeln der Worte hinabsteigen. Das muss ich fast neidlos anerkennen. Hochachtung! Ist ja auch einer von uns!
Aber der is’ auch mehr weg als da.
Wieso?
Warum weiß ich nicht so genau, aber der lässt sich doch nur sehr selten blicken – blicken lässt er sich eigentlich fast gar nicht – kaum merkst, dass er da sein könnte, müsste, möglicherweise ist, ist er auch schon wieder weg. Gesehen hat ihn eigentlich noch kaum einer, aber viele glauben, ihn recht gut zu kennen. Jedenfalls wissen viele von ihm.
Die, die ihn wirklich kennen, sind jetzt nicht da, ich glaub’, sie schützen ihn, schützen uns, schirmen ihn ab. Er bleibt lieber im Hintergrund. Nein, er muss dort bleiben. Noch. Noch vielleicht. Wenn er kommen will und kann, ist er von uns herzlich eingeladen.
Lange Pause – Blockade – Blockade-Pause.
Nicht wirklich Blockade. Waren viele da. Er nicht. Nur warten. Nicht mehr schreiben können. Müde. Erschöpft.
Was war es eigentlich, womit wir begonnen hatten?
Schreiben.
Ja, er wäre der richtige. Nicht alleine, aber mit uns. Er braucht uns auch dazu, aber wir ihn noch viel mehr. Ohne ihn geht es nicht.
Er wird kommen.
Wir werden sehen.
Und das Gesehene aufzeichnen.
Susanne
P.S.: Ich hoffe, ihr haltet mich jetzt nicht für total verrückt, obwohl man mir eine gewisse Ver-rückt-heit nicht absprechen kann.
(Wer das versteht, wird auch diesen Text verstehen.)
Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von »Sumahel« (13. November 2005, 18:41)