Hier noch ein Text von mir, den ich erst vor kurzem geschrieben habe:
TRAUMGESCHICHTE VOM FLIEGEN
„Oma, stimmt das, du hast doch mal einen Engel gesehen?“ fragte das kleine Mädchen.
„Na ja, ob es wirklich ein Engel war, weiß ich nicht so genau. Aber es ist schon gut möglich. Und gesehen habe ich diese Gestalt ein paar Male.“ erwiderte die Großmutter.
Das Mädchen bettelte ganz aufgeregt: „Bitte, bitte, erzähl mir davon! Er konnte doch fliegen, dieser Engel? Und hatte er auch Flügel?“
Die Großmutter lachte: „Und wie der fliegen konnte! Aber Flügel brauchte er dazu keine.“
„Wie geht das denn – Fliegen ohne Flügel? Bitte erzähl mir doch alles über diesen Engel!“ bat das Mädchen.
„Na gut“, meinte die Großmutter, „ich will dir ja alles berichten, was ich darüber weiß, aber von Anfang an.
Das erste Mal begegnete er mir, als ich einen Vortrag über Mathematik hörte. Es war ein großer Saal mit vielen Menschen, hauptsächlich Studenten. Niemand wusste, woher sie kam, doch plötzlich schwebte am Rande des Saals neben unseren Sitzreihen, und dann über unseren Köpfen eine Gestalt. Man erkannte nicht einmal genau, ob es eine männliche oder weibliche Gestalt war. Ich entschied mich aber für eine Frau. Sie sah aus wie die lebendig gewordene Statue einer griechischen Göttin. Und wie lebendig sie war. Sie flog vergnügt um uns herum und über uns hinweg, drehte Kurven und kugelte sich voll Freude in der Luft herum. Sie schien so greifbar, und war doch eine Art Lichtgestalt. Dort, wo sie geflogen war, blieb für eine kurze Zeit ein glitzernder Streifen in der Luft. Sie sauste gerade über mich hinweg und ich streckte schnell die Hand noch oben, um wenigstens noch das Glitzernde zu ergreifen, doch da verschwand es schon wieder. Aber ich fühlte mich plötzlich so froh und leicht und warm ums Herz, dem Vortrag lauschte ich schon längst nicht mehr.“
„Im Anschluss an den Vortragssaal war noch ein weiterer Raum, zu dem die Türen weit offen waren. Dort flog der Engel hinein, und ich drehte mich um, um ihn zu sehen. Auch in dem Raum waren Menschen, die dem Vortrag zuhörten, aber weniger, und es waren auch ganz hinten Kinder, die spielten, weil sie sich bei dem Vortrag langweilten. Dort hielt sich die Gestalt am liebsten auf, spielte mit ihnen, flog um sie herum und zwischen ihnen hindurch, neckte sie und entwischte ihnen gleich wieder. Dieses Spiel ging eine ganze Weile – der Vortragende hatte auch schon irritiert aufgehört zu sprechen – doch dann verschwand sie wieder genauso unerklärlich, wie sie gekommen war.“
„Aber du hast sie doch noch öfter gesehen?“ fragte das Mädchen.
Die Oma beruhigte sie: „Ja freilich, das nächste Mal sah ich sie, als ich an einem herbstlichen Tag aus dem Fenster schaute. Da flog sie ausgelassen durch die Lüfte, vollführte ihre Loopings und Sturzflüge – verletzen konnte sie sich nicht, da sie ja eine Art Lichtgestalt war. Sie trieb auch allerhand Schabernack und zerzauste dem einen die Haare, und anderen stupste sie die Hüte vom Kopf. Die Leute waren aber nicht verärgert, sondern lachten und waren erheitert und froh, weil ihnen leicht und warm ums Herz wurde, wenn sie da war.“
„Mir wurde auch erzählt, dass sie einmal bei einem Bauern die Hühner aufschreckte, die daraufhin aufgeregt und laut gackerten. Der Bauer war zunächst beunruhigt und kam mit seinem Rottweiler, um den Störenfried aufzuspüren. Es war ein wilder Hund, der laut bellte. Da kam der Engel ganz sanft von oben herabgeschwebt, legte sich neben den Hund und streichelte ihn sanft. Der Rottweiler wurde ganz friedlich und legte sich auch hin. Die Engelsgestalt schlang ihre Arme um ihn und er war sanft wie ein kleines Lamm. Die Hühner beruhigten sich auch wieder, und alle Mitglieder der Bauernfamilie wurden gesegnet, indem ihnen der Engel über den Kopf strich.“
„Drei alte Frauen berichteten mir auch von einer Begegnung mit dem Engel . Sie waren gerade auf dem Heimweg, und sie waren jede für sich recht still, weil sie etwas verdrossen waren über ihr Leben und über ihr hohes Alter. Da schwebte der Engel heran und strich jeder von ihnen sanft übers Haar. Ihnen wurde ganz warm ums Herz, sie fühlten sich frohgemut und zufrieden. Und ihre schütteren, weißen Haare änderten sich auf die ursprüngliche Farbe und Dichtheit. Bis zu ihrem Tode trugen sie noch ihre braune, brünette und blonde Haarpracht.“
„Und wann hast du sie selbst wieder gesehen, diese Engelsfrau?“ fragte das kleine Mädchen, das ergriffen lauschte, ganz andächtig und leise.
„Einmal war ich bei einer tänzerischen Darbietung in einem Lokal. Eine Gruppe von Männern und Frauen vollführte einen sehr schönen, lebendigen Tanz. Es war ein sehr hoher Raum, und plötzlich war die Gestalt wieder da. Sie kam von ganz oben, von der Decke, und schwebte herab zu der Tanzgruppe. Sie mischte sich unter die Tänzer und flog im Rhythmus mit. Sie schlängelte sich durch ihre Reihen und vollführte Purzelbäume und Loopings über ihnen. Aber der Tanz und ihre Flugkünste fügten sich harmonisch zusammen. Zum Schluss ergriff sie noch eine wertvolle kleine Statue, die im Lokal aufgestellt war und flog mit ihr bis ganz nach oben an die Decke. Sie vollführte ihre Flugkunststücke, und alle Menschen hielten den Atem an, auch weil sie um die Statue fürchteten. Der Engel neckte sie ein wenig, ließ die Statue fallen, um daraufhin gleich wieder hinunterzufliegen und sie sicher aufzufangen. Dann stellte er sie ganz behutsam wieder an ihren Platz. Einmal noch schraubte er sich durch die Luft an die Decke und war wieder verschwunden.“
„Und dann hast du sie nie wieder gesehen?“ fragte das Mädchen traurig.
„Doch einmal, und es war das allerschönste Mal. Ich machte gerade einen Spaziergang im herbstlichen Wald. Die Bäume zeigten sich in ihrer bunten Pracht. Ich kam auf eine Lichtung und machte dort Rast. Ich setzte mich ins weiche Moos. Da sah ich sie auf einmal wieder, wie sie ganz allein – zu ihrem eigenen Vergnügen – ihre Runden drehte. Sie purzelte und drehte sich durch die Luft, und ich glaubte so etwas wie ein fröhliches Lachen zu hören. Sie schraubte sich rund um einen Baum ganz hoch nach oben, fuhr wie eine Rakete noch weiter hinauf, um wieder ganz sanft herabzuschweben. Sie rauschte durch die Blätter, und ließ sie zu Boden regnen. Eine ganze lange Weile schaute ich ihr zu. Ich hatte Tränen in den Augen, weil ich so gerührt war von diesem zauberhaften Schauspiel. Da hatte ich einen dringenden Wunsch an den Engel. Ich formulierte ihn in Gedanken und war mir sicher, dass das Zauberwesen ihn hören konnte.
‚Liebes Lichtwesen, bitte besuche auch meinen Sohn, den Martin. Streiche ihm übers Haar und beschenke ihn mit dieser inneren Freude. Gib ihm Kraft und stärke sein inneres Wesen, so dass es nach außen durchwirken kann. Und, bitte, heile alle seine inneren Verletzungen und Kränkungen.’
Das lichtvolle Wesen schwebte nahe an mich heran und nickte mir zu. Es verschwand und ich weinte vor Glück, weil ich sicher war, dass es meinen Wunsch erfüllen würde. Es ging natürlich um deinen Vater. Du selbst warst damals noch nicht auf dieser Welt. Den Engel habe ich dann nie wieder gesehen.“
Das Mädchen freute sich und war aber auch traurig. Eine Weile dachte es nach, dann fragte es: „Wolltest du denn nie selbst fliegen können?“
Die Großmutter schmunzelte: „Doch, eigentlich schon. Aber das eigenartige war, dass ich bei jeder Begegnung mit dem Engel das Gefühl hatte, ich wäre es selbst, die hier ausgelassen und voll Vergnügen herumflog. Man glaubte wirklich, selbst zu fliegen, wenn man ihn sah. Seine Freude daran nahm mich mit in die Lüfte.“
„Ich möchte auch so fliegen können!“ seufzte das Mädchen.
„Mach ja keinen Unsinn – wir Menschen können nicht so fliegen wie dieses Zauberwesen. Aber es gibt schon eine Möglichkeit“, sagte die Großmutter, „Bleib einfach sitzen oder leg dich hin – ganz wie du willst und wie es dir am angenehmsten ist – und schließe die Augen.“
Das Mädchen legte sich auf die Bank und kauerte sich zusammen. Langsam schloss es die Augen.
Ihre Oma fuhr fort: „Stell dir vor, du bist in diesem wunderschönen Herbstwald. Du stehst auf der Lichtung und spürst unter deinen Füßen das weiche Moos. Du schaust dir die buntgefärbten Bäume und Sträucher an. Ein leichter Wind weht dir durchs Haar, die Sonne scheint durch die Blätter, und du fühlst dich rundum glücklich und wohl. Schließe die Augen sanft, strecke dein Gesicht nach oben und spüre Wind und Sonne auf deinem Gesicht noch deutlicher. Dann wünsche dir, dass sich deine Füße langsam vom Boden abheben. Du kannst die Arme zur Seite ausbreiten oder in die Höhe strecken oder auch einfach hängen lassen. Ganz wie du möchtest. Warte einfach, bis sich deine Fersen und dann die ganzen Füße langsam vom Boden lösen. Du schwebst über dem Waldboden und bist ganz leicht und schwerelos. Wenn du möchtest, kannst du noch höher schweben, du bist frei beweglich in der Luft. Da du jetzt ein Lichtwesen bist, kannst du dich nicht verletzen. Du kannst zwischen Sträuchern und Bäumen herumfliegen. Du kannst auch knapp über dem Boden fliegen und die Blätter aufwirbeln. Beweg dich voll Vergnügen ganz einfach, wie es dir in den Sinn kommt.“
Die Großmutter machte eine Pause und ließ das Mädchen in der Vorstellung herumfliegen, und natürlich flog auch sie wieder mit.
„Wenn du möchtest und schon mutiger bist, kannst du auch Purzelbäume in der Luft machen, du kannst dich in jede erdenkliche Richtung drehen, schnell oder langsam fliegen, in die Luft schießen oder langsam schweben. Und wenn du willst, dann flieg ganz hoch nach oben und sieh dir die Bäume von oben an. Mit etwas Mut kannst du auch Sturzflüge und Loopings machen. Oder du kugelst ganz einfach ausgelassen und vergnügt in der Luft herum. Hauptsache, du hast Spaß daran.“
„Wenn du dich genug ausgetobt hast, dann flieg durch oder über den Wald zu dem kleinen Teich, wo wir immer die Enten füttern gehen. Dort wo am Rand Schilf wächst und in der Mitte die Seerosen aus dem Wasser ragen. Sieh dir alles gut an. Vielleicht magst du ja auch im Drüberfliegen mit der Hand durchs Wasser fahren oder sogar kurz ins Wasser eintauchen. Auch im Wasser kann man sich bewegen wie beim Fliegen, nur in die Tiefe. Du brauchst dir keine Sorgen um die Luft zu machen, du bist ja ein Lichtwesen. Du kannst hier herumpritscheln, spritzen und tauchen, wie du eben Lust hast.“
„Hast du auch davon genug, dann komm wieder zurück zu der Waldlichtung. Schweb dort sanft zu Boden, bis deine Füße wieder das Moos spüren. Du stehst wieder mit beiden Beinen fest auf der Erde und atmest tief durch. Wenn du möchtest kannst du dich auch noch auf dem weichen Waldboden hinlegen und deinen ganzen Körper mit der Erde verbunden spüren.“
„Du bist jetzt kein Lichtwesen mehr, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Öffne deine Augen wieder, setz dich auf, streck dich und atme tief durch.“
Das Mädchen setzte sich auf, räkelte und streckte sich. Es lächelte und fragte die Großmutter sanft: „Omama, du wirst doch wieder mit mir fliegen?“
Susanne
Okt. / Nov. 2005