Der alte Mann und... ... heute ist Mittwoch und mir ist wie immer kalt, dabei hat der Winter noch gar nicht richtig angefangen. Ich sitze auch wie immer in dem ältesten Wirtshaus am alten Hafen am Tisch beim Kamin und wärme meine uralten Hände an einem Krug Glühwein. Darum frage ich mich wieder mal, wie schon zu oft in den letzten Jahre, warum es Gott gefällt, mich so lange Leben zu lassen? Aber Heute ist trotzdem alles anders, es ist nicht nur mein Geburtstag, es ist auch der letzte Altjahrstag des Jahrhunderts; morgen beginnt das Neunzehnte! Darum ist das Lokal auch mitten in der Woche schon voll, nur an meinem Tisch sitzt keiner, wer mich kennt, meidet mich weil ich so alt wie kein anderer geworden bin. Nur die Kranken kommen zu mir, wenn ich am Hafen die Schiffe beobachte, berühren mich und hoffen auf ein Wunder, oder so. Seit ich nicht mehr zur See fahre, kamen immer ein paar Kinder und Enkel zum Jahreswechsel hier ins Lokal. Heute ist keiner gekommen. Vier sehr junge Leut betreten das Gasthaus, drei Jungen und ein Mädchen. Da nur noch bei mir Plätze frei sind zögern sie, doch das Mädchen redet auf die Jungs ein und kommt dann zu mir. Sie fragt mich ob sie sich hier her setzten dürfen. „Hmmm“ brumme ich. Sie winkt die Jungs herbei. Sind wahrscheinlich Absolventen der Bürgerlichen Schule hier. In Straßburg soll es jetzt ja sogar die Schule für alle geben, egal ob Bauerskind oder eines Handwerker sein‘s. Sie sagte noch etwas von „den Beginn des neuen Jahrhunderts feiern“ und auch von „wie alle auf der Welt“. „Hmmm“ brumme ich wieder. „Nee, nicht überall. Griechenland, Türkei, das Baltikum und Rußland haben noch den alten Kalender. Die Franzosen ihren neuen Revolutionskalender. Mit einer Zehntagewoche und einem zehn Stunden, a 100 Minuten, Tag. In den Kolonien, zum Beispiel die Indier, die Maya jede alte Kultur besitzt auch noch einen eigenen alten Kalender, ebenso die Juden, und, und... und die haben den Jahreswechsel an ganz anderen Tagen.“ Alle schweigen, aber nur kurz. Sie sagt dann ganz einfach und ehrlich „Wieder was gelernt.“.Dann reden sie darüber, was sie jetzt werden wollen. Der eine Schiffsoffizier wie sein Vater, der zweite Händler bei seinem Vater, der dritte Medikus, wie sein Vater. Jetzt weiß ich auch wieder, wo ich ihn schon mal gesehen habe - eben dort. Das Mädchen will Lotse werden, wie ihr Vater. Einer der Jungs erwidert ihr. „Frauen können niemals ein Kapitän werden und Lotse kann man erst werden wenn man jahrelang Kapitän war.“ Mit einem „Hmmm“ mische ich mich in ihr Gespräch ein. „Erst vor 15 Jahren sind bei Kiel an der Ostsee die ersten Lotsen vom Staat angestellt worden. In meiner Kindheit haben das die ältesten Fischer noch gemacht, die kannten ihre Gewässer am besten! Und in meinem langen Seefahrerleben, habe ich immer nur auf Segelschiffen angeheuert, die dorthin fuhren, wo ich grade hin wollte. Ich war darum auch noch nie Kapitän. Aber ich habe schon vor ungefähr 60 Jahren eine echte Kapitänin kennen gelernt! Carmen Marquez war ihr Name, und von ihr bekam ich auch den Tipp, wo ich meinen Vater finden könnte.“ Alle schauen mich fragend an, aber wieder das Mädchen sagt es. „Warum suchten sie ihren Vater?“ „Hmmm, das ist aber eine sehr lange Geschichte.“ Und deute auf meinen lehren Krug. Meine beiden Händen an dem neuen Krug Glühwein wärmend beginne ich von meinem Leben zu berichten. „Eigentlich wäre ich beinahe ein Sonntagskind geworden. Aber auf irgendeinem Schiff hier im Hafen wurde eine Kanone zum Jahreswechsel zu früh abgefeuert. Meine Mutter bekam einen Schreck und ich kam darum schon ein paar Minuten vor Mitternacht am Samstag den 31. Dezember Anno Domini 1701 zur Welt. Geschwister habe ich keine bekommen; sie wartete anscheinend ihr ganzes Leben lang auf ihn... Meine Mutter arbeitete damals hier in diesem Wirtshaus. Und mein Vater war ein paar Tage vor seiner Abfahrt in sein große Abenteuer hier eingekehrt. Er wollte "Westwerts segeln, mit den Delfinen", und neues Land entdecken. Dass er etwas hier hinterlassen hatte, meine Mutter und mich, wusste er nicht. Schon als Kind trieb ich mich immer am Hafen bei den Schiffen herum. Als ich acht Jahre alt wurde, besorgte mir meine Mutter darum eine Anstellung als Schiffsjungen auf einer Pinas, das nach America fuhr. Am Tag der Abfahrt weinte sie und bat mich „Komm bitte wieder nach Hause!“ Ich nahm ihre Hände und sagte „Mit Gottes Hilfe werde ich von jeder Fahrt wieder heimkehren. Hier wird immer mein zu Hause sein, egal wie alt ich je werde! Aber America ist sehr groß, und meinen Vater fand ich da natürlich (noch) nicht. Dafür aber hier in diesem Wirtshaus, nach dem meine Mutter gestorben war, Anne. Ich war in Indien vor fast 70 Jahren, als meine Mutter starb. Ein Händler von Elfenbein in Mumbai stolperte vor mir zurück, als hätte er einen Geist gesehen. Da er mindestens 20 Jahre vorher mit jemandem, der genauso aussah wie ich, schon Elfenbein gehandelt hatte. Ja die Anne, die arbeitete dann hier, und ich war sofort in sie verliebt, und kurz danach auch sie in mich. Es gab eine kleine Hochzeit, und 7 Monate später unser erstes Kind. Ich fuhr weiter zur See und sie arbeitete weiter hier, wir hatten 10 Kinder und 6 wurden erwachsen. Dank deines Opas, der war auch schon ein guter Medikus! In einem kleinem Hafen in Mexico traf ich vor rund 65 Jahren eine alte aztekische Händlerin, die mir sehr, sehr lange in die Augen schaute. Und danach noch sehr viel länger hinten in ihrem Lager nach etwas suchte. Dann brachte sie mir einen seltsamen Talisman und sagte "den brauchst du" und verschwand wieder nach hinten. Ich wartete lange, aber sie kam nicht mehr nach vorn. Ich nahm den Talisman und legte statt der üblichen, die doppelte Anzahl Münzen hin... Es ist nun schon genau auf den Tag, 50 Jahre her. Ich kam von einer Fahrt aus der Südsee erst sehr spät zurück zu meiner Anne und den Kindern und zu diesem Wirtshaus. Aber es erstrahlte von hinten in einem seltsamen Schein. Den hatte ich leider schon ein paar mal in meinem Leben gesehen. Ich rannte in den Durchgang zum Hof und stand vor dem brennendem Stall. Die Tiere schrien und ein kleines Kind auch. Ich nahm die Axt vom Hauklotz, ging um den Stall herum und schlug an der Rückwand einige Bretter aus. Die Maultiere und Pferde stürzten sofort ins freie und ein kleiner Junge kam weinend hinterher. Es war der Enkel von dem Wirt, der mit einer Kerze im Stall gestolpert war. Dafür bekam ich hier die Kammer oben und jeden Tag eine feste Mahlzeit mein Leben lang! Dass es so lang wird, damit hatte er wohl nicht gerechnet. Außerdem wurden der Vater von dem Lütten und ich danach sehr enge Freunde, wie zwei Brüder die immer zusammenhalten. Seht ihr den alten Wirt da hinter dem Tresen, er ist es, der damals im Stall mit der Kerze gestolpert war. Aber mit der Mahlzeit jeden Tag gab es vor fast 30 Jahren ein Problem. Nach dem ersten Hungerwinter heuerte ich darum noch einmal auf einem Schiff an. Es wurde meine letzte Fahrt! Der Kapitän wollte in der Neuen Welt Pelze von den Irokesen und anderen Indianern eintauschen. Der Pelzhandel war schwieriger als erwartet. An der Ostküste gab es keine Indianerstämme mehr. Und die Pelztiere waren schon bis an die Großen See‘n ausgerottet. Die Irokesen führten Kriege gegen die Huronen und anderen Indianerstämme wegen neuen Jagdgründen. Selbst die Franzosen mussten die Hudsonbay-Gebiete verlassen. Sie verloren gegen die Briten und verbündeten Indianer. Somit hatten die Engländer jetzt dort das Monopol. Und es kamen auch noch schlechte Nachrichten aus der Heimat. Die Ernte war wie schon im Jahr davor wieder mehr als miserabel. Ich fragte darum meinen Kapitän, ob ich die gesamte Heuer schon gleich haben könnte um hier Lebensmittel zu kaufen und Heim zu bringen. Er sagte natürlich sofort nein, doch nur einen Moment danach, ja! Im Jahr darauf, machte er es noch zwei mal. Und obwohl ich seit dem nicht mehr zur See fahren konnte, zu alt eben, gab er mir für die Idee jedes mal einen kleinen Anteil. Mit den Lebensmitteln machte er mehr Gewinn, als mit den Pelzen. Und wir alle hier in diesem Wirtshaus überlebten dadurch diese drei Hungersjahre. Hmmm, ich habe deine Frage nicht vergessen ´holde Maid´. Drei Jahre nach dem ich Kapitänin Carmen Marquez kennen lernte, konnte ich endlich auf einem Schiff anheuern, das in die von ihr genannten Gestade fuhr. Abseits von allen bekannten Routen gelangten wir in einen wunderbaren Archipel. Überall am Horizont sah man kleinere und größere Inseln und viele Schiffe die wie wir zur Hauptinsel fuhren. Im Hafen der Hauptstadt war schon viel los, aber in der Stadt noch viel mehr, Gaukler, Musiker, Schausteller, Händler. Es war das Fest zur Unabhängigkeit, 25 Jahre. Vor dem Schloss sperrten aber die Wachen alle Eingänge ab. Ein Soldat sah mich von oben bis unten an und rief einen Offizier herbei. Der schaute auf meinen Talisman an der Kette um den Hals, dann sehr genau mein Gesicht und lies mich als einzigen passieren. Dort sah ich die Banner. Das selbe Symbol wie mein Talisman. Vor dem Schloss begegneten wir uns. Wir schauten uns nur sehr, sehr, sehr lange an. Dann ging ich wieder zum Hafen auf das Schiff zurück.“ Am Tisch herrscht tiefes schweigen. Abgebrochen wurde es natürlich von ihr. „Warum hat den keiner von euch etwas gesagt?“ „Hmmm... ich habe gesehen, was für eine schöne Welt er da in all den Jahren erschaffen hat. Und er hat erkannt, was er dafür verloren hat. Welches Wort hätte daran etwas ändern können?“ Es ist schon kurz vor Mitternacht. Die Tür vom Wirtshaus „Erschaffung einer neuen Welt“ öffnet sich und ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder betreten die Schankstube. Die alten Augen sehen zwar nicht mehr gut, aber den alten Mann dort erkennen sie sofort. Mein jüngster Sohn und Enkel und Urenkel und Ururenkel kommen auf mich zu… … Aber was aus meiner Familie geworden ist, das ist eine ganz andere Geschichte.